Nachts, wenn die Katzen fliegen

Anna war fest davon überzeugt, dass Katzen fliegen konnten. Auch nachdem Kitty sich drei Stockwerke lang beharrlich geweigert hatte dieses zu tun, ließ sich Anna nicht davon abbringen.
Natürlich hatte Kitty den Aufprall nicht überlebt. Wieso war sie auch nur so stur gewesen? Anna wusste doch genau, dass Katzen fliegen konnten. Schon oft hatte sie nachts ihre Flügelschläge gehört.
Außerdem fraßen sie Vögel und die flogen ja auch. Wie sollten die Katzen sie denn sonst fangen, wenn nicht, indem sie ihnen hinterherflogen?
Annas Eltern war Kittys Verschwinden nicht aufgefallen. Wenn sie zu Hause waren stritten sie sich nur. Dann ging es um Geld und um andere Dinge, die nur für Erwachsene wichtig waren. Anna hasste es, wenn sie sich stritten. Aber noch schlimmer war es, wenn der Streit vorüber war. Anna wusste, was dann kam.
Sie kauerte sich in die hinterste Ecke ihres Zimmers und hoffte, dass ihr Vater nicht hereinkommen würde. Meistens tat er es aber doch.
In den Nächten danach konnte Anna nicht schlafen. Sie roch ständig seine Alkoholfahne und spürte seine drängenden Hände. Früher hatte sie noch geweint, aber mit der Zeit waren die Tränen ausgeblieben.
Jetzt lag sie nur noch still da und wartete darauf, dass es vorüber war. Als Anna an diesem Morgen aufwachte, war es ruhig im Haus, aber es war nicht die Art von Stille, kurz bevor ihr Vater ins Zimmer kam, sondern eine andere, eine gute Stille.
Anna stand auf und ging zur Tür. Sie war wie immer verschlossen. Anna ließ sich zu Boden sinken, mit dem Rücken an die Wand. Ihre Blase drückte und ihr Magen wollte ein Frühstück. Annas Blick fiel auf Kittys Kissen. Es war leer.
»Blöde Katze«, dachte sie. Wieso war Kitty nur so stur gewesen? Hätte sie nicht einfach ein paar Runden drehen können? Ihr zuliebe? Annas Blase trieb sie wieder hoch. Sie ging ein paar Mal durchs Zimmer, vorbei an der Wand mit dem vergilbten Mickey-Maus-Poster und den Bleistiftstrichen, mit denen sie jeden Tag ihre Größe markierte. Irgendwann würde sie groß genug sein um davonlaufen zu können. Dann würde ihr niemand mehr wehtun.
Sie schaute aus dem Fenster und ein Gedanken setzte sich in ihr fest. Was, wenn auch sie fliegen konnte? Sie hatte es noch nie ausprobiert, aber wenn Katzen es konnten, warum nicht auch sie? Anna stellte sich ihren Vater vor, wie er ins Zimmer kam und sie nicht mehr fand.
Sie schob den Stuhl vor das Fenster und stieg hinauf. Als sie hinunter schaute, konnte sie noch undeutlich den Fleck sehen, dort, wo Kitty aufgeschlagen war. Ihr regungsloser Körper war verschwunden, aber das getrocknete Blut war noch sichtbar.
Vielleicht war sie ja doch nicht tot und einfach davongeflogen? Anna sah hinauf in den wolkenbedeckten Himmel und für einen Moment glaubte sie dort oben eine Bewegung erkennen zu können.
Auf dem Flur wurde Lärm laut. Ihre Eltern kehrten zurück. Sie stritten sich schon wieder.
Anna öffnete das Fenster und stieg auf die Fensterbank. Ein kalter Wind strich über ihre nackten Beine, streichelte ihre Wange und zerrte an ihren Haaren, die von der Nacht noch völlig zerzaust waren. Tief unter ihr gingen Menschen vorbei, doch niemand schaute zu ihr hinauf. Sie könnten einfach über ihren Köpfen hinwegfliegen und niemand würde sie sehen.
Der Lärm auf dem Flur wurde lauter. Ihre Mutter weinte. Anna schob die Füße vor, bis die Zehenspitzen über dem Fenstersims hinausragten. Anna stellte sich vor, wie es wäre, mit den Katzen um die Wette fliegen zu können. Sie liebte Katzen. Kitty hatte ihr nie wehgetan und sie war immer da gewesen, wenn Anna sie gebraucht hatte. Hinterher.
Hinter ihr schloss jemand die Zimmertür auf. Anna breitete die Arme aus, schloss die Augen und flog …

(c) Uwe Hermann

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