Edgar und die Schummelblume

Wenn es etwas gab, dass Edgar Bienenstich noch weniger leiden konnte als Wasser, war es die Schule, - ganz besonders jetzt, wo das Jahr zu Ende ging und die Blätter der tausendjährigen Eiche sich braun färbten und zu Boden fielen. Allerdings hatte die schlechte Laune des Krabbelkäfers nichts mit der Farbe der Blätter zu tun, sondern damit, dass Lehrer Puck ihnen heute erzählt hatte, dass sie mit Ende ihres ersten Schuljahres auch Zensuren bekommen würden.

Zwar hatte Edgar keine Ahnung, was Zensuren waren, aber er stellte sich vor, dass sie irgendeine köstliche Wurzelsorte waren. Wenn der Krabbelkäfer an seine schulischen Leistungen dachte, würde er wahrscheinlich der Einzige sein, der am Tag der Zensuren mit leeren Magen nach Hause ging.

Edgar saß auf einen Stein, seinen Kopf in zwei seiner sechs Hände gestützt und grübelte, als Nick und Bernie hinter einem Farngewächs hervortraten.

„Hallo Edgar“, riefen Nick und Bernie.

„Stört mich nicht, ich mache Hausaufgaben“, antwortete der Krabbelkäfer.

„Hausaufgaben?“ Nick schüttelte ungläubig den Kopf. „Du hast doch noch nie Hausaufgaben gemacht.“

„Na und, dann fange ich eben jetzt damit an.“

„Und was machst du?“

„Ich überlege, wie ich es schaffe, dass ich auch Zensuren bekomme.“

„Oh, Zensuren bekommst du, nur keine guten“, kicherte Bernie.

„Ich will aber die dicksten und größten.“

„Wenn du gute Zensuren willst, hättest du etwas früher mit dem Lernen anfangen müssen, jetzt ist es zu spät.“

„Hätte ich geahnt, dass es am Ende des Schuljahres Zensuren gibt, hätte ich das sicher auch getan.“

„Um deine Zensuren jetzt noch aufzubessern, müsstest du schon eine Schummelblume mit in den Unterricht bringen“, grinste Bernie.

„Eine was?“

Bernie verdrehte stöhnend die Augen. „Sag bloß, du hast heute Vormittag schon wieder nicht aufgepasst, Lehrer Puck hat doch den ganzen Morgen von nichts anderem gesprochen.“

„Da habe ich ja noch nicht gewusst, dass es Zensuren geben wird.“

„Die Schummelblume ist eine Pflanze, die ihre Gestalt verändern kann“, erklärte Nick, der Spitznasenwurm. „Mal sieht sie aus wie eine Kornblume, dann wieder wie eine Löwenzahnblüte und beim nächsten Mal vielleicht wie eine Dotterblume.“

„Und diese Blume soll hier in der Gegend wachsen?“

„Lehrer Puck behauptet das, obwohl er selbst noch keine gesehen hat.“

Bernie kicherte. „Wie auch?“

Edgar stellt sich vor, wie viele Zensuren er bekommen würde, wenn er Lehrer Puck eine Schummelblume mit in den Unterricht brachte, und ihm lief schon das Wasser im Mund zusammen. Der Krabbelkäfer sprang von seinem Stein auf.

„Ihr habt recht, ich muss eine Schummelblume finden – und ihr werdet mir bei der Suche helfen.“

„Aber...“

Bevor Bernie und Nick protestieren konnten, war Edgar an ihnen vorbei und in einem angrenzenden Kornblumenfeld verschwunden, und ihnen blieb nichts anderes übrig, als dem Krabbelkäfer zu folgen. „Es kann ja wohl nicht so schwierig sein, eine so seltsame Blume zu finden“, hörten sie seine Stimme aus der Ferne.

 

Erst als die Sonne bereits hinter den Baumwipfeln verschwunden war, musste Edgar zugeben, dass es wohl doch nicht so einfach war, eine Blume zu finden, von der niemand wusste, wie sie aussah. Erschöpft saßen die drei in der Nähe der alten Eiche und hielten ihre schmerzenden Füße.

„Können wir nicht endlich aufhören und nach Hause gehen?“ fragte Bernie, der Tausendfüßler, während er seine achthundertsechsundfünfzig Füße der Reihe nach massierte.

„Jetzt, wo wir die Schummelblume fast gefunden haben?“ fragte Edgar empört.

„Fast gefunden?“ Nick sah den Krabbelkäfer ungläubig an. „Wir könnten noch tagelang durch das Tal irren, ohne die Schummelblume zu finden. Wir wissen ja noch nicht einmal, wie sie aussieht. Es könnte jede Blume sein.“ Nick deutete auf eine große, mit einem gelb gezackten Blütenkelch. „Diese da, oder die kleine Mohnblume daneben. Deshalb hat doch noch niemand eine Schummelblume gefunden, weil man sie nicht von einer normalen Blume unterscheiden kann.“

Edgar riss seine Augen so weit auf, dass sie fast so groß, wie die von Puck, dem Frosch waren. „Natürlich, du hast recht.“

„Heißt das, wir können jetzt nach Hause?“ fragte Bernie hoffnungsvoll.

„Klar, aber zuerst graben wir die Kornblume aus, das ist nämlich die Schummelblume.“

*

Lehrer Puck betrachtete durch die dicken Gläser seiner Brille skeptisch die Blume, die Edgar vor seinem Lehrerstein abgeladen hatte.

„Das soll eine Schummelblume sein?“

Edgar nickte heftig.

„Ich weiß nicht,“ quakte Puck, „ich finde, sie sieht wie eine ganz gewöhnliche Kornblume aus.“

„Das ist ja der Trick. Die Schummelblumen tarnen sich als ganze normale Blumen, damit man sie nicht erkennen kann.“

„Aber Edgar, schau dich nur um. Auf der Wiese stehen lauter Blumen, die ganz gewöhnlich aussehen. Wie willst du zwischen ihnen eine Schummelblume entdecken?“

„Ganz einfach“, grinste Edgar. „Das sind alles Schummelblumen – hunderte, tausende...“

© Uwe Hermann

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